Michael Heuchemer
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Dr. Michael Heuchemer

  
Südwest-Presse 2.7.2010

„Richter rügen Folterdrohung"

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat der Beschwerde des Mörders Magnus Gäfgen teilweise recht gegeben. Deutschland habe gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen.

Viel Glas, viel Metall, zwei an Silos erinnernde Verhandlungssäle, eine beeindruckende Bibliothek unter der Erdoberfläche und mehr als 400 Büros: In einem futuristischen Bau in Straßburg residiert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der Blick geht hinüber über die Ill zum Gebäude des Europaparlaments, weshalb mancher den EGMR zu Unrecht ebenfalls für ein Organ der EU hält. Für Deutschland, das mit der ehemaligen Bundesverfassungsrichterin Renate Jaeger selbst eine Richterin am EGMR stellt, ist der Gerichtshof in den vergangenen Jahren zu einer Adresse geworden, mit der sich vor allem der Gedanke an Niederlagen und Rüffel verbindet.

Gestern war wieder einmal so ein Tag. Kurz nach 10.30 Uhr. Die 17 Richter der Großen Kammer verkünden: Deutschland hat gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen, gegen jene Vorschrift, die Folter und unmenschliche Behandlung kategorisch verbietet. Mit dem Vorwurf überlanger oder unfairer Prozesse sah sich die Bundesrepublik, die die EMRK wie 46 weitere Staaten unterzeichnet hat, mehrfach konfrontiert. Doch Folter? Bis zuletzt hatten viele nicht erwartet, dass die Bundesrepublik ausgerechnet im Fall des wegen Mordes an dem Frankfurter Bankierssohn Jakob von Metzler zu lebenslanger Haft verurteilten Magnus Gäfgen eine solche Niederlage kassieren könnte - einzig mit der Einschränkung, dass es die Richter bei der Unterkategorie "unmenschliche Behandlung" beließen und nicht auf "Folter" erkannten.

Dafür, dass es soweit kommt und Deutschland in der Statistik der Verletzungen der EMRK einen weiteren unrühmlichen Zähler einfahren könnte, sprach einiges. Etwa, dass sich die Große Kammer erneut mit dem "Fall Gäfgen gegen Deutschland" befasst hatte, trotz eines Berges von derzeit rund 127 000 Beschwerden, die ihrer Bearbeitung harren. Das allein zeigte, dass das Gericht dem Fall, der vor mehr als sieben Jahren Deutschland beunruhigte, grundsätzliche Bedeutung beimaß. Und wer sich jemals in den Tiefen des futuristischen Gebäudes zu diesem Thema umhörte, bekam Sätze zu hören wie: "Bei Folter kennen wir nichts." Keine Gnade also mit Staaten, die glauben, geächteten Vernehmungsmethoden auch nur ein Minimum an Existenzberechtigung einräumen zu können. Ihrer unbestechlichen Linie verdanken die mittlerweile 47 Richter seit Gründung des Gerichts 1959 den Ruf, die letzte Rettung für all jene zu sein, die sich von ihrer nationalen Justiz entrechtet fühlen - und das selbst dann, wenn es sich um Kläger handelt, die durch ihr eigenes Handeln gezeigt hatten, dass ihnen ein Menschenleben wenig wert war.

So zeigten die Richter auch in ihrem gestrigen Urteil, für dessen Begründung sie 47 eng bedruckte Seiten verwandten: Artikel 3 gilt absolut. Er kann nicht eingeschränkt werden, auch nicht in Notlagen, wie sie der damalige Frankfurter Polizei-Vizepräsident Wolfgang Daschner in der Nacht zum 1. Oktober 2002 annahm, als er dem Verdächtigen Gäfgen "nie erlebte Schmerzen" androhen ließ.

"Freiwillig" habe Gäfgen sein in dieser Nacht abgegebenes Geständnis im späteren Prozess wiederholt, führte der EGMR nun aus. Der Prozess gegen den heute 35-Jährigen war also fair. Damit bestätigte die Große Kammer, was der EGMR vor knapp zwei Jahren bereits in erster Instanz entschieden hatte. Eine Neuauflage des Verfahrens in Deutschland ist damit endgültig ausgeschlossen.

In der grundsätzlichen Frage, ob Daschners Drohung gegen Artikel 3 verstieß, blieb das Gericht hart - wenn auch die Entscheidung mit elf zu sechs Stimmen erging. Zum einen stellte der EGMR klar, dass eine Drohung mit Folter grundsätzlich der tatsächlich ausgeführten Folter gleichkomme, weil die Angst des Betroffenen vor körperlicher Folter zugleich psychische Folter bedeute. Zum anderen befand das Gericht, es habe sich bei Daschners "etwa zehn Minuten" dauernder Drohung "nicht um einen spontanen Akt", sondern um eine "bedachte Handlung" gehandelt. Daschner, der seinerzeit über den Vorgang eine Aktennotiz angefertigt hatte, sah sein Vorgehen stets als von der Rechtsordnung gedeckt an. Es müsse als letztes Mittel ein gesetzliches Recht auf Gewalt im Verhör geben, forderte er.

Gäfgens Anwalt Michael Heuchemer zeigte sich gestern zufrieden. "Dies ist ein Signal, dass derartige Methoden bei der Polizei nicht einzusetzen sind." Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) stellte klar: "Das Folterverbot gilt absolut. Die Menschenwürde ist das kostbarste Gut der Menschenrechte und Grundlage unseres gesamten Rechtssystems. Diese rote Linie darf niemals überschritten werden."

Letztlich ging es im "Fall Gäfgen gegen Deutschland" nicht nur um die Hauptakteure jener Nacht. Für Deutschland stand die Frage im Raum, ob der absolute Schutz der Menschenwürde, wie er auch im Grundgesetz verankert ist, auch in Notsituationen Bestand hat. Angriffe darauf gibt es viele, nicht nur im Fall Daschner, der lediglich der erste war, an dessen Beispiel das Problem lautstark diskutiert wurde. Denn das Undenkbare ist längst denkbar geworden: die Frage, ob die Menschenwürde abwägbar ist. Schon seit Jahren weht ein Geist zweifelhafter Relativierung durch Teile der akademischen Landschaft. Die Vorschläge zielen darauf ab, Gewalt im Verhör zu rechtfertigen - mit Neusprech wie dem Begriff der Rettungsfolter. Die Argumentation: Die Menschenwürde ist unantastbar. Steht aber die Würde des Täters gegen die eines Opfers, hat die Würde des Opfers Vorrang.

Allen derartigen Versuchen erteilten die Straßburger Richter eine Absage. Das Verbot der Folter gelte "unter allen Umständen". Seine Grundlagen erlaubten "keine Ausnahmen" und "keine Rechtfertigungen oder Interessenabwägungen", unabhängig vom Verhalten der betroffenen Person - nicht einmal in Fällen, "öffentlicher Gefahr, die das Leben der gesamten Nation" bedroht. Eine offene Anspielung auf das oft diskutierte Szenario, ein Terroranschlag könne nur verhindert werden, indem der einzige Verdächtige misshandelt wird, um das Versteck der Bombe preiszugeben. So hat der EGMR die Gelegenheit genutzt und vorsorglich einen Wink gegeben, was im Kampf gegen den Terror keinesfalls erlaubt ist: Folter.“